Die Burrgass in den Rodener Saarwiesen
„Einer schönsten Spielplätze in Roden“
(von Walter Schmolenzky)
Wir Kinder aus der Herrenstrasse, das waren die Buben:
Armin, Gerd, Willi, Wolfgang und andere, wir hatten in der Burrgass und in den Saarwiesen den schönsten Spielplatz, den man sich als Kind wünschen konnte. In den weiten Wiesen fühlten wir uns wie die Indianer in der Prärie. Ein riesiger Abenteuerspielplatz zwischen dem Ellbach, der Saar und der Vuhlsschpetz (alte Flurbezeichnung). Neben Ellbach und Saar durchzogen noch eine Reihe kleinerer Entwässerungsgräben die Wiesen, die voller Leben, reich an Fischen, Fröschen und Molchen waren. Wir fingen Stichlinge und Kaulquappen und hielten sie Einweggläsern. Verirrten sich schon mal Brassen oder Rotaugen aus dem Ellbach in die Wassergräben, so haben wir diese gefangen und neben Froschschenkeln am Lagerfeuer gegrillt und gegessen. Ein Leckerbissen, der auch heute jeden Gourmet begeistern würde.
In der Burrgass, daher auch der Name, befand sich eine Quelle, ein Borren/Born. Aus einem dicken, eisernen Rohr strömte ständig frisches, herrlich kühles Quellwasser. Hier stillten wir unseren Durst und trugen das Wasser in Flaschen und Kannen nach Hause. In der Dorfsprache wurde die Quelle die „Wäsch“ genannt. Bis in die Nachkriegszeit ist hier noch vereinzelt Wäsche gewaschen und auf den Wiesen gebleicht worden. Unterhalb des Waschplatzes wurde der Quellbereich auch als Viehtränke genutzt.
Schilfgürtel, die so dicht waren, dass sie uns Kinder wie ein undurchdringlicher Dschungel vorkamen, durchzogen an einigen Stellen die Wiesen. In diesem Röhricht bauten wir aus Weiden und Schilfrohr unsere Hütten. Aus biegsamen Weiden schnitzten wir Pfeil und Bogen und aus einer Astgabel fertigten wir eine Schleuder. Gut versteckt hielten wir am Lagerfeuer Kriegsrat und beratschlagten, in welchem der nahegelegen Schrebergärten wir Kirschen klauen wollten. Dabei mussten wir acht geben, dass uns mein Onkel Josef (Gombert), der in dieser Zeit Feldschütz war, nicht erwischte. Oft genug hatte er uns nämlich beim Nacktbaden in der Saar aufgescheucht. Wir Kinder hatten zwar großen Respekt vor ihm, aber Angst hat er uns nie eingeflößt.
Damals hatten Saar und Ellbach zum Teil einen anderen Verlauf und waren nicht begradigt. In natürlichen Windungen, die Ufer mit hohen Weiden und Pappeln gesäumt, schlängelten sie sich beide durch die Wiesen. Dort, wo der Ellbach in die Saar mündet, haben die meisten von uns schwimmen gelernt. Das Wasser war hier seicht und flach. Unter Anleitung der älteren Brüder wurden im etwas tieferen Wasser die ersten Schwimmversuche unternommen. Später – wir konnten es kaum erwarten – haben wir dann, in Begleitung der Älteren erstmals die Saar, die an dieser Stelle nicht allzu breit war, zum Wallerfanger Ufer überquert. Stolz, aber auch ein wenig ängstlich waren wir nach dieser Mutprobe.
Im Sommer waren die Wiesen ein einziges Blumenmeer aus kniehohen Margeriten, Wiesenschaumkraut und anderen Blumen. Manchen Blumenstrauß zu Muttertag oder zu Fronleichnam haben wir hier gepflückt. Zwischen den Blumen und Gräsern summten und brummten Bienen und Hummeln. Artenreiche Schmetterlinge bevölkerten die Wiesen und im Gras brüteten die heute schon selten gewordene Grasmücke und die Lerche.
Im Herbst, wenn die Wiesen gemäht und das Heu in den Scheunen war, ließen wir selbst gebastelte Drachen steigen. Mangels besseren Materials – es war Nachkriegszeit – bestanden unsere Drachen aus dem Papier alter Zementtüten und aus dünnen Weidenruten. Die einfache Konstruktion wurde mit Schnur zusammengehalten und das Papier mit Mehlpappe ver-klebt. Und dennoch stiegen unsere Drachen in schwindelerre-gende Höhen.
In den Wintermonaten, häufig in der Weihnachtszeit, traten Ellbach und Saar über ihre Ufer und überschwemmten die Saarwiesen. In manchen Jahren stand das Hochwasser auf den Grundstücken und in den Kellern der Häuser auf der linken Straßenseite in der Herrenstraße. Vom Stallgebäude im sogenannten „Tulle Loch“ ragte dann nur noch das Dach heraus. „Zimmer Hänschen“, der dort zusammen mit einer Frau hauste, die man „Päther Kluttchen“ nannte, mussten ausquartiert wer-den. Es konnte passieren, dass das Wasser über Nacht so anstieg, dass sich die beiden nur noch auf das Dach retten konnten. Morgens saßen sie dann schreiend und winkend auf dem Scheunendach und mussten mit einem Kahn in Sicherheit gebracht werden. Die Rettungsaktion war immer ein großes Spektakel, an dem das halbe Dorf teilnahm. Im Dorf wurde gemunkelt, die beiden würden Hunde schlachten und essen. Ob sie tatsächlich Hunde geschlachtet und gegessen haben, wusste schon damals niemand so genau. Jedenfalls hatten wir Kinder große Angst vor ihnen und machten um das „Tulle Loch“ einen weiten Bogen. Vermutlich war unsere Angst völlig unbegründet und den beiden bedauernswerten Menschen wurde bitter Unrecht getan. Ging das Hochwasser zurück und es war ein strenger Winter, bildeten sich in Senken und Mulden herrliche Eisflächen, auf denen wir Schlittschuh liefen oder unsere Schleimer (Eisbahn) zogen.
So schön unser Spielplatz auch war, so gefährlich war es aber auch in den Saarwiesen in der Nachkriegszeit zu spielen. In den Saarwiesen standen noch einige Westwallbunker. Zwar waren die Bunker größtenteils gesprengt und weitestgehend von Minen und Waffen geräumt; dennoch fanden wir noch reichlich Munition und Kriegsgerät, mit dem wir spielten und hantierten. Was wir alles mit dem gefundenen Material anstellten, möchte ich hier nicht näher ausführen. Nur soviel:
„Wir Kinder müssen die besten Schutzengel gehabt haben und das Gebet mancher Mutter, ihr Kind möge wieder heil und unversehrt vom Spielen in den Wiesen nach Hause kommen, muss gehört worden sein“.
Wenn ich heute, nach so vielen Jahren, die Kindheit ist lange vorbei, durch die Burrgass gehe, erinnert nur noch wenig an einen der schönsten Spielplätze in Roden:
Der Ellbach, früher an einigen Stellen tief und breit, seine Ufer mit hohen Weiden und Pappeln gesäumt, ist heute kanalisiert und nur noch ein Rinnsal. Der Borren mit den Wasserläufen, die Blumenwiese im Sommer, alles verschwunden. Nur „Tulles Loch“ und einige Senken und Mulden, in denen sich im Winter die Eisflächen bildeten, sowie ein paar kümmerliche Schilfzonen sind noch vorhanden. Der Brühlgraben verrohrt und nicht mehr zu sehen. Weit im Norden, an der Vuhlsschpetz, befindet sich heute die Autobahnbrücke. Hier, wo die Saar in ihrem begradigtem Bett, zwischen baumlosen Ufern traurig und still hindurch fließt, endet mein Spaziergang.
Die Burrgass und die Saarwiesen
Anmerkung:
Bei dem Brühlgraben, der in der Dorfsprache „Brillengrawen“ genannt wurde, handelte es sich um den Hauptentwässerungs-graben, der die vielen kleineren Wassergräben in den Wiesen aufnahm und an einigen Stellen bis zu einem Meter tief und breit war. Er führte u. a. durch die Schrebergärten und wurde an manchen Stellen gestaut, um Gießwasser zu erhalten. In Höhe des Wiesengewannes „Pontacker“ floß er schließlich in die Saar. Der Mündungsbereich war Laichplatz und Kinderstube für Fische aus der Saar.
„Brühl“ bedeutet feuchte, nasse Wiesen, daher die Bezeichnung Brühlgraben.
„Vuhlsschpetz“ ist eine alte Flurbezeichnung für eine dreieckige Wiesenparzelle, die sich an der heutigen Autobahnbrücke über die Saar befand.